Eingekesselt

Der Künstler Nikolaus Eberstaller über den Menschen Uli Leitner.

Inmitten der pannonischen Tiefebene liegt ein Örtchen, das so gar nicht still ist – gegen den ein klassisches Widerstandsnest so zerbrechlich wirkt wie ein winterlicher Limbo-Abend im Altersheim bei geöffneten Fenstern.

Gols.

Pannonier statt Gallier. Der Gegner? Nicht Julius C., sondern etwas viel Schlimmeres: Industrieplörre. Dagegen weiß man sich hochmotiviert zu wehren und greift auf probate Gegenmittel zurück – um sich nicht weh zu tun mit dem, was einem andere auftischen. Man vergärt bzw. braut sich lieber sein eigenes Ding und lebt so trotz des Umzingeltseins von Ideenlosigkeit erfreulich alternativ. Ich habe keinen Tau, warum das so ist. Ich denke, es hat weniger mit Wasseradern, Chemtrails oder gehässigen Aliens zu tun als mit der Tatsache, dass schräges Denken infektiös ist. Wir haben das im Blut. Einer der illustren Dorfoberhäupter flog im Propeller-flugzeug im Tiefflug über das Kuckucksnest, um Textbomben abzuwerfen, die seine politischen Gegner vor Wut explodieren ließen. Auch in Sachen Kunst ist Genie und Wahnsinn hier eng verwoben: Vom weltweit verlegten Kinderbuchautor und -illustrator Erwin Moser bis hin zum Mitbegründer des Wiener Aktionismus, Otto Muehl. Winzer haben hier lange vor der Zeit Dinge getan, die andere zuerst als völligen Blödsinn verlachten, um sie kurze Zeit später völlig schambefreit und in inbrünstiger Überzeugung zu kopieren. Ein bescheiden begütertes Brüderpaar beschloss in den frühen Neunzigern, Sektproduzenten zu werden – zu einer Zeit, als man in Österreich Sprudel nur zum Jahreswechsel oder in Bordellen konsumierte. Alle hatten auf ihre Weise Erfolg, der hier eher unspektakulär empfunden wird, nahezu britisch. Ist halt so. In Gols trifft man an jeder Ecke jemanden, der etwas tut, wovon Unternehmensberater Herzrasen bekommen würden. Man ist schlicht daran gewöhnt, dass hier die vermeintliche Normalität in die Luft gejagt wird, um fruchtbar wieder zu Boden zu sinken. Und tut sie das nicht, war’s ein netter Versuch.

Wer aufhört zu spielen, hört auf zu leben.

In Gols könnte vieles seinen Anfang genommen haben. Hat Newton hier den Apfel geworfen und Einstein ihn gefangen? Das ist jedenfalls nicht widerlegt. Bewiesen aber ist, dass ein Herr Rudolf Steiner dem Ort zumindest nahekam – der Gründer der Biodynamie weilte in Bruck an der Leitha – man sagt, mit einem schielenden (eine vermutlich dem Durst geschuldete Asymetrie) Auge Richtung Gols. Diese Marktgemeinde ist zudem der einzige Ort der Welt, in dem Napoleon definitiv nicht gegen eine Eiche urinierte. Er war gar nicht hier. Zu heikel. Man jubelt nicht jedem Zuagroastn entgegen. Jetzt wissen sie auch, warum Trump hier keinen Golfplatz hat.

Hier treibt auch Uli sein Wesen: Wenn sich der gelernte Chemiker halbnackt zu Tiefbassmusik wie ein an ADHS erkrankter Gibbon durch den Weinkeller hangelt und dabei glücklich seinen musculus triceps brachii mustert, dann hebt das durchaus sanft die Stimmung, lässt den Blutdruck der meisten Beobachter aber im undramatischen Bereich. Immerhin gibt es hier eine Menge zeitgenössischer Komplizen mit ähnlichen Diagnosen. Die Pannobile-Bande zum Beispiel. Der Uli spielt darin eine hauptsächliche Nebenrolle. Er ist sowas wie ein Putzerfisch – hängt sich an die Großen dran, klopft ihnen den Staub von den Schultern, nascht ein bisschen und tut Gutes dabei. Man muss schließlich fit bleiben, denn da draußen lauern die widerwärtigsten Ausgeburten der Hölle nur darauf, ihre Fänge in das ideendurchpulste Fleisch der wehrhaften Tiefländer zu schlagen, um ein für alle Mal Schluss zu machen mit dieser unverschämten, geschäftsschädigenden Individualität. Jenseits der Dorfgrenzen herrschen diese apokalyptischen Reiter mit den grauenhaften Waffen der Neuzeit: eichengechippte Rotweine, grippevorbeugende Putenschnitzerl, jahrelang haltbare Backware, Industriebier. Da drinnen aber macht sich ein Widerspenstiger einen Jux daraus, aus sicherer Deckung etwas viel Boshafteres als Granaten in das Feindesland zu werfen: Spiegel.

Das macht er gerne. Und delektiert sich am Schluchzen aus den Schützengräben. Denn all der monetäre Profit, der sich dieser Welt entreißen lässt, ist nichts gegen das, was Menschen wie er empfinden dürfen, wenn es wieder einmal gelungen ist:

Kindliche Freude.

Wie schmeckt nun sein Bier? Erfreulicherweise so, dass man nicht im Traum darauf käme, dass das ein Chemiker braut. Es schmeckt so gar nicht nach Wissenschaft, sondern einfach so, wie ein Bier zu schmecken hat, aber viel zu selten schmeckt:

Emotional erfreulich.

Entstanden ist es aus einer zum dringenden Handeln zwingenden Not: Winzer sehnen sich nach der intensiven Auseinandersetzung mit ihren Produkten, vor allem nach einem anständigen Bier, das die müden Lider hebt und die Papillen wieder freikärchert. Uli nahm diesen hehren Auftrag an.

Nach jahrelanger Selbstzerfleischung (die der Herr Leitner niemals zugeben würde) beherrschte er das Handwerk so gut, dass er sein Bier ohne Vollvisierhelm und damit in Gesellschaft öffnen konnte. Zähe Selbstkritik schlug in flüchtige Zufriedenheit um.

Hinter diesem Erfolg steht ein Geheimrezept, das ich ebenso natürlich und völlig schamlos lüfte, weil kein Mensch verstehen wird, was damit gemeint ist – geschweige denn es nachmachen wird können:

Akribisch konzertiertes Chaos.

Er weiß ganz genau, was er tut – selbstverständlich ohne dabei eine umfassende Ahnung zu haben. Er verabscheut alles, was so zu sein hat und nicht anders. Er vereint das wissenschaftliche Experiment mit der unbestechlichen Leckmichdoch-Technik. Das ist der einzige Weg, um diesen Leben Spirit einzuhauchen. Zwar muss das Handwerk gelernt sein, aber das, was es schließlich begehrenswert macht, entsteht durch Prozesse, die mit Worten nicht zu erklären sind. Anders gesagt: Wer schon in der Ideenfindung davor einnässt, die Dinge anders anzugehen, der wird es nicht weiter als bis zum Boulevardbier bringen. Während das Allerweltsbier keinerlei Reaktionen auslöst, bis es sich schließlich in die Kanalisation verpisst, vermag ein charaktervolles Bier ein begehrenswertes Feuer in der Amygdala unseres Gehirns zu entfachen. Burn baby burn. Zuvor durfte Ulis Bier experimentell alle Raststufen durchmachen, der Brauer selbst blieb vier lange Jahre rastlos. Dann beschritt er den intelligenten, aber nur viel zu selten genutzten Mittelweg und erklärte ihn zum Standard. Hier die Maltoserast, dort die Verzuckerungsrast, dazwischen tänzelt UPA biologisch und in Kleinmengen. Der Hopfen wird am freien Markt zugekauft. Der Selbstanbau im flachländischen Nordburgenland birgt gewisse Risiken: 130 km/h Windböen zerren nicht nur an einer acht Meter hohen Hopfenstaude – sie versetzen sie ins Nachbarland. Es gib allerdings Erstrebenswerteres als einen illegalen Grenzübertritt von Hanfgewächsen ins immer mehr humorbefreite Ungarn.

Durst. Idee. Vier Jahre Vollvisier. Bingo!

Damit ist fast alles erzählt. Bis auf das, was kommt: Nachdem Uli ein Mensch ist, der jeglichem Renommee konsequent aus dem Weg geht (ausgelernt haben wirkt so komatös), steht in Zukunft das UPP an. Ulis Punk Pils. Der Durst darauf wird hoffentlich belohnt, denn Letzte Mohikaner wie er leben von dem im Nebennierenmark gebildeten Hormon, das zur Gruppe der Katecholamine gehört und das noch einen Tick besser fetzt als sein Bier.

Adrenalin.

Es könnte durchaus sein, dass Elon Musk bald blass wird, wenn er den Golser Gemeindeboten liest.