L(i)eben

Der Künstler Nikolaus Eberstaller über die Menschen Sabine & Tina.

Was ist Leben? Die einen sprechen von aufrechter Vitalfunktion, die anderen von irgendwo irgendwas tun, die anderen von nicht tot sein. Die Wissenschaft beschreibt Leben als die Organisations- bzw. Prozessform, die allen Lebewesen gemeinsam ist und die sie von lebloser Materie unterscheidet.
Pflanzen, Tiere, Pilze, Protisten, Bakterien und Archaeen – sie alle leben. Sie alle tauschen Energie mit ihrer Umgebung – sei es durch Fotosynthese, Stoffwechsel oder Oxidation.

Reicht nun ein schlagendes Herz, um zu leben?
Natürlich nicht.

Es gibt existierende und lebendige Menschen. Ersteres ist bedauerns-, Zweiteres so begehrenswert wie rar. Der lebendige Mensch nimmt seine Umwelt auf, stillt seine Neugier an ihr, reflektiert über das große Welttheater. Er sitzt in der ersten Reihe und beobachtet seine Mitmenschen, die sediert vor ihrem Smartphone in das Vorverdaute starren, bevor sie noch schnell ein Selfie posten, ihr Mindesthaltbarkeitsdatum hinter sich lassen und aus die Maus. Weil er das tut und weil er es infrage stellt, geht er eigene Wege. Die lediglich existierenden Menschen leben so, wie es mir hier zu beschreiben unpassend erschiene. Falsche Baustelle irgendwie. Denn erfreulicherweise gibt es auch Menschen, die sich aus dem Klassifizierungs-wahn freidribbeln. Die werden dann mit einer Erkenntnis belohnt, die alle anderen in den Schatten stellt – die klüger, wahrhaftiger und präziser formuliert ist als alles andere, was je ein menschliches Bewusstsein in all seiner erbarmungslosen Schärfe erkannt hat:

Einen Scheiß muss ich.

Womit wir bei den zweien wären. Sabine und Tina. Einen Scheiß müssen sie. Keinen Scheiß wollen sie. Das Leben kann so erfreulich direkt sein, wenn man darauf zugeht, anstatt es zu umkreisen. "Will ich” oder "nix für mich” erstickt die Theorie im Keim und belebt die gute alte Praxis. Man trinkt nicht mit dem Gehirn. Wer bei den zweien Wein in hochprivater, tiefenentspannter Atmosphäre verkostet, der hat vor allem eines im Sinn:

Wein.

Da geht es nicht um analytisches defragmentieren, sondern ums freudvolles reinkippen in das, was das Glas in sich hat. BÄHM! So simpel, so sexy und völlig diplombefreit. Wenn Sie unbedingt wissen wollen, welcher Hauptwindrichtung die Reben im Frühherbst ausgesetzt sind und ob die Luftdruckkurve eh kosinusartig verläuft, müssen Sie googeln. Die zwei wissen es nicht und es ist ihnen auch scheißegal. Wenn Ihnen der Wein nicht schmeckt, so ist das bedauerlich und Sie können ihn wegkippen, ohne dass wer angefressen dreinschaut. Frauen, die als Alternative für vermeintliche Lebenswege deutlich erlebnisdichtere Routen auf Lager haben. Wen oder was und auch wie sie lieben ist kein Teil einer schüchternen Nachfrage, sondern das Rückgrat ihrer Haltung. Wenn ihnen danach ist, einen Haka am Balkon zu tanzen, dann tun sie das ebenso beflügelt, wie wenn es darum geht, am Ende des Tages und kurz vor dem Wolkenbruch die letzten Trauben trocken zur Presse zu bringen.
Die zwei haben sich in den Wein verliebt, weil er als Botenstoff all das transportiert, was sie sie belebt: kein flacher Jux, aber tiefgründige Tollerei. Die Verdichtung auf das erfrischend Unwesentliche. Bungee-Jumps ins Trübe. Und vor allem: nicht einmal im Ansatz die Diskussion, ob das vernünftig ist. Denn natürlich ist es das nicht. Unvernunft ist die Hauptingredienz lustvollen Empfindens. Blutige Anfänger dieser Lehre erkennt man daran, dass sie ihre adipösen 500 und mehr PS-Prothesen an Münchens Boulevards im Kreis steuern und dabei ernsthaft glauben, niveauvolle Beobachter würden kollabieren vor Neid. Fortgeschrittene Lehrlinge hingegen erfreuen sich dann an den reineren Formen der Unvernunft, die ganz ohne Publikum, dafür aber mit sehr viel Gaudi auskommt – ein entspannt alleine geflaschelter Blaufränkisch kann durchaus begeistern. So sind die zwei niemals darauf bedacht, es den anderen recht zu machen. Denn sie wissen: Wenn es darum geht, jemanden zu beeindrucken, sollte man stets bedacht darauf sein, die richtige Adresse zu wählen – sich selbst. Man lebt niemals für die anderen, man lebt für sich selbst, und in besonders glücklichen Momenten für jene, die man liebt.
Wenn man die zwei ein Stück des Weges begleitet, erhält man einen zarten Einblick in das Innere ihrer Bedürfnispyramide. Im Gegensatz zu den Messi-Buden der meisten anderen ist es da drinnen erstaunlich übersichtlich – ein Hochaltar, errichtet aus Tisch, Sessel, Wein und Reiseführer. Ein Kühlschrank, befüllt mit Essenswertem, beklebt mit Lesenswertem. Beseelter Nippes: bunte Vögel, leuchtende Automaten, Tickets, Bücher, Tischtennistisch. Vertraulich Handschriftliches, Botschaften von der einen an die andere. Absurdes voll innerer Logik. Viel Raum. Die Pyramidenspitze ist hier besenrein, keine Spur von SUVs, Anti Aging, Clutches oder Must-haves. Kein Falstaff-Abo. Dort oben ist anderes gelagert: Träume. Und die brauchen freien Raum. Es gibt nicht einmal eine Treppe, denn um dorthin zu gelangen, bedarf es keiner Muskel-, sondern Geisteskraft. Wenn man sich dorthin denkt, dann findet man vielleicht auch das, was die zwei dort in die Spitze gekratzt haben: zwei Buchstaben, in der Mitte ein Zeichen. Im Gegensatz zum 1947er Château Cheval Blanc unbezahlbar. Ausdruck all dessen, was ich hier zu beschreiben niemals in der Lage sein werde.

Denn eines ist sicher:
Die zwei lieben nicht nur Wein.