IM FREYEN FALL

Der Künstler Nikolaus Eberstaller über die Menschen Heike und Gernot Heinrich.

“A gmahde Wiesn” – so bezeichnen östlich der Alpen eingeborene Österreicher einen Umstand, der jedes weitere Handeln oder gar Denken obsolet macht und der dennoch respektablen Profit abzuwerfen verspricht. Nicht wenige empfinden das als höchst erstrebenswert, nur wenige empfinden es zum Speiben – vor allem jene, die erfolgreichen Stillstand eher mit künstlichem Tiefschlaf denn mit Lebenstraum verbinden. Angekommen sein kann man schließlich auch mit Endstation verknüpfen. Renommee und Arriviertheit findet ja meist dort statt, wo man sich selbstverknallt ausruht.

Gernot und Heike Heinrich haben, als sie den Scheitelpunkt ihrer klassisch großen Karriere erreichten, einen süßen Moment der Schwerelosigkeit darin genossen, sich kurz mit Salzberg zugeprostet, um dann im kontrollierten Fall wieder zu Boden zu rauschen, um eine weniger klassische, dafür umso erdigere Karriere anzustreben.

Alles wieder infrage zu stellen bzw. nie damit aufzuhören, erschwert das Leben, erleichtert aber das Sein.

Wenn man außerhalb vielfach tradierter Märchenmodelle an das Wesentliche der Schöpfung glaubt, ohne sich einer endgültigen Antwort sicher zu sein, dann hat man statt eines Schienenstrangs einen Lebensweg vor sich. Straucheln, stürzen und notbiwakieren inklusive. Man ist wieder auf Hilfe angewiesen. Man ist mitunter erschöpft, irritiert, desillusioniert. Man ist sich seiner Sache nicht sicher.

Gut so. Hervorragend. Denn ohne dem wäre das als Lohn empfundene Glück, wenn der Tagesmarsch gut war, von lähmender Selbstverständ-lichkeit, reizlos, unbegehrenswert.

Völlig normal.

Doch nachdem nichts von dem, was einem im Leben widerfährt, sinnlos ist, war das vergangene Tun ebensowenig nutzlos, wie das gegenwärtige endgültig sinnvoll ist. Aus all dem Gelernten entstand erst die Freyheit, sich zu lösen, um Neues zu bestreiten. Weine, die ihre Reife keinem strengen Internat verdanken, sondern die sich weitgehend als Autodidakten nur mit der sanften Begleitung des Winzers so entwickeln konnten, wie es Ihnen guttut: Talente werden gefördert, nichts über den Kamm geschert und Charaktere jenseits des Mainstreams werden nicht nur zugelassen, sondern leidenschaftlich unterstützt. So entstehen dann auch keine Streber, die fett und opulent ihre Seele auf die Gaumen derer, denen gerne geschmeichelt wird, hinrotzen. Heinrichs Freyheit ist, den Weinen keinen jährlich garantierten All-in-one-Geschmack, sondern eigene, mitunter aufrührerische oder gar despektierliche Noten mitzugeben. So kann es auch passieren, dass man beim Erstkontakt nicht lächelt wie beim lang ersehnten Stuhlgang, sondern glotzt wie ein Kalb. Weil man sowas noch nie am Gaumen hatte, weil es irritiert, erschrecken lässt über das, was möglich ist, und fragen lässt, ob das so in Ordnung sein kann. Aber diese Frage ist entbehrlich. Wer möchte seinen Charakter "in Ordnung" wissen? Ist nicht ein “Aber hallo!” der Ordnung vorzuziehen, wenn es um das geschmackliche Betrachten der Natur geht?

Ist Trübe nicht Voraussetzung für Magie?
Ist Klarheit, Reinheit und das Einhalten gelernter Typizität nicht vor allem eines: stinklangweilig?

Jimmy Hendrix hätte den Einsteigerkurs für Blockflöte mit Auszeichnung bestanden und wäre dann 20 Jahre regionaler Direktmarketingleiter eines sehr weichmachenden Plastikgeschirrproduzenten gewesen, bevor er sich mithilfe eines schlecht verdrahteten Stabmixers vor zu Tode gelangweiltem Publikum versehentlich entleibt hätte. Clärenore Stinnes hätte 1927 nicht damit begonnen, mit dem Auto die Welt zu umrunden, sondern damit, einen Pullover zu stricken. Lise Meitner hätte 1939 nicht die Kernspaltung, sondern Lurch unterm Sofa entdeckt. Rudolf Steiner wäre das geworden, was er niemals hätte sein wollen. Andy Warhol wäre bis zu einer Überdosis Azetonschnüffelei (in einer Brooklyner Hundetoilette) Grafiker (ebendort) geblieben. Edward Snowden hätte mehr Freunde, aber drei Magen-geschwüre, die das nicht wettmachen würden. Sinatra wäre nach gescheiterter Dreiecksbeziehung mit modeschmuckvertreibender Gattin und dreibeinigem Rauhaardackel depressiver Schweigemönch mit kreisrundem Haarausfall geworden. Lennon wäre alt geworden und Raffael noch jünger gestorben. Marie Curie wäre vor Langeweile gestorben. Nichts wäre so, wie es heute ist. Weil keiner die Eier(stöcke) gehabt hätte, alles auf eine Karte zu setzen.

Dieser Haltung folgend, haben Gernot und Heike ihren jahrzehntelang erarbeiteten Erfolg genutzt, um mit der daraus gewonnenen Kraft noch einmal jugendlichen Wagemut aufzubringen. Das lief und läuft nicht ohne Reibung ab, die zwei hinterfragen oft und ausgiebig, wobei der Grund dafür nicht vorrangig das Weinmachen betrifft – so weit sind sich die Heinrichs einig: Zuerst kommen die Fragen über die Welt, dann erst jene über den Wein darin. Das Zweifelhafte schmeckt man allerdings nicht heraus, wirklich nicht, denn das Selbstzerfleischen zehrt zwar an den Menschen, nährt aber den Wein. Das, was die beiden tun, ist begehrenswerter als finanzielle Unabhängigkeit – denn das, was und wie sie es tun, wie sie es empfinden und worüber sie sich begeistern und erregen, ist von solch jugendlich abenteuerlicher Güte, dass es in höchstem Maße reizvoll und vor allem: für Geld nicht zu haben ist. Wenn mittelalterliche Menschen zurück in die Tiefen der magischen Welt ihrer Kindheit reisen, um das Zauberhafte dem tradierten, seltenst hinterfragten Allgemeinwissen voranzustellen, dann lohnt das vor allem mit einem: einer annähernden Antwort auf die Frage, was wir hier eigentlich zu suchen haben: Erkenntnis, und wenn es nur ein Hauch davon ist. Wir reden immer vom Charakter des Weines und meinen doch meistens das, was wir ihm kühl berechnend aufzwingen – das Korsett, in das wir ihn pressen, um möglichst viele Käufer zu finden, damit wir uns Dinge leisten können, die keine Sau braucht. Die Überlegung aber, die den Natural Wines innewohnt, ist, das Korsett zu lösen, die Weine zu entfesseln, ihnen freieren Lauf zu lassen. Das alles ist entgegen so mancher Gerüchte nicht mit weniger, sondern mit deutlich mehr Wissen verbunden, als dies bei der industriell rundgelutschten Vinifikation der Fall ist. Auch das Risiko ist deutlich höher, weil man viele Prozesse der Natur, die ja bekanntlich unberechenbar ist, anvertraut. Neben diesem Vabanquespiel während der Genese gibt es dann abschließend einen sehr kleinen, nahezu familiären Käuferkreis, der ähnlich groß und strukturiert ist wie Menschen, die das Programmkino dem Blockbuster bzw. die windumtoste Steilküste trotz Knöchelbruch dem Sandstrandgaren à la sous vide mit Melanomgarantie vorziehen. Wenn über die Natural Wines in selbsternannten Gourmet-magazinen (als Gourmets bezeichnen sich verspannte Menschen, die ihre Genussfähigkeit als verdammt nochmal ernsthaften Wettbewerb betrachten) geschrieben wird, dann unter der Rubrik Trends (damit ist alles über die eigene Meinung der Autoren gesagt) oder einfach so in den wenigen Blättern, die sich dem Thema unaufgeregt, aber überzeugt widmen. Es ist ja schließlich nichts Neues, man hat es nur endlich wieder ausgegraben unter dem Schuttberg, den die Massenweinhaltung jahrzehntelang größer hat werden lassen. So kann man auch die Menschen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, unter hohen Risiken unter den Trümmern unseres Konsumfehl-verhaltens nach überlebenden Inhalten zu suchen, getrost als Narren bezeichnen. Ihrem Tun tut das keinen Abbruch.

Heinrichs buddeln, ob es euch passt oder nicht.