Als ich sie besuche, beginnt es zu regnen. Die Weingärten rund um ihr Haus sinken in die immer strenger werdende Kälte. Judith atmet tief ein. Sie hält den Atem an. Statt uns zu unterhalten beobachten wir, wie draußen der Regen zäher wird, milchiger. Schließlich rinnt Halbgefrorenes über die Scheiben.
Es ist Ende April.
Heute Nacht noch wird es frieren. Judith lächelt irritiert.
Ungeübt Sterbliche scheitern bereits an weitaus weniger Ereignisdichte, würden Gott und die von ihm im Rausch erschaffene Welt verfluchen, jammern wie adipöse Wohnungskatzen, zu Boden sinken, anklagen, sich ungeliebt fühlen, hadern und zürnen. Vielleicht tut sie das auch, aber trotz des Gefühls vom Wind nach dessen Laune vertrieben zu werden, ist sie stärker als all die Menschen da draußen, die längst aufgegeben haben – die sich mehr über eine Ablebensversicherung freuen als Judith über einen Feuerkäfer, der sie davon ablenkt, an morgen zu denken. Oder an die Ernte. Judith ist keine Frau, die „ihren Mann steht“. Sie ist eine Frau, die weitaus Schwierigeres als diese platte Anforderung zu bewältigen hat: das Leben, zu dem sie sich entschlossen hat ... den Rechenstift beiseitezulegen und dazu beizutragen, dass wir Weine trinken dürfen, deren Charaktere da draußen, wo es heute Nacht vielleicht noch frieren wird, entstanden sind – und nicht von der Marketingabteilung des Großhändlers.
Sie ist so symbiotisch verwoben mit dem, was sie niemals als „Produkt“ bezeichnen würde, dass der Hagel nicht nur da draußen, sondern auch in ihr drinnen wüten würde, wenn er denn käme.
Jene Menschen, die Wein ausschließlich über den Preis definieren statt über dessen Genese, werden niemals all die Risiken eingehen, die eine Winzerin wie sie an dem Tag unterschrieben hat, als sie das, was die meisten niemals angehen, anging: ihre Berufung.
Menschen wie Judith scheitern immer wieder – weil der Verlust ein selbstverständlicher, wenn auch gefürchteter Teil ihres Schaffens ist.
Heute Nacht ist das Scheitern ganz nahe. Wenn weder Rauch noch Wolken die Morgensonne dämpfen, wir sie darüber nachdenken, was sie verbrochen hat, um diese Geißelung erleben zu müssen. Judith arbeitet mit der Natur und die benimmt sich mitunter wie ein Junkie – zumindest aus der Sicht der Menschen. Während ich aus Solidarität zu frieren beginne, verliert sich Judith im Anblick des Hahnes, der vor dem Weingut patrouilliert. Sie sitzt mir gegenüber, trotzdem ist sie weit weg von mir und ganz nah am Huhn.
Diese Szene erinnert mich an den Text „Die Natur“, der ursprünglich Goethe zugeschrieben wurde, vermutlich aber von Georg Christoph Tobler stammt:
„Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen - unvermögend aus ihr herauszutreten, und unvermögend tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen. Sie schafft ewig neue Gestalten, was da ist, war noch nie, was war, kommt nicht wieder - alles ist neu, und doch immer das Alte. Wir leben mitten in ihr und sind ihr fremde. Sie spricht unaufhörlich mit uns und verrät uns ihr Geheimnis nicht. Wir wirken beständig auf sie und haben doch keine Gewalt über sie.“
Judith lebt jenseits der Welt, die keine Sinne mehr hat. Ihr Zuhause ist weit entfernt davon, nur wenn sie zu viel gearbeitet und zu wenig geschlafen hat, erblickt sie die Welt der Mehrheit schemenhaft. Menschen, die mit gesenktem Haupt, alles endlos wiederholend, durch den Tag trotten. Sie bedauert deren Leben, das von noch größerer Furcht als der ihren dominiert wird und das sich jedem Versuch, Erkenntnis zu gewinnen, unerbitterlich widersetzt. In dieser ihr fernen Welt macht Regen Kalkränder und Erde dreckig – in Judiths Welt macht beides fruchtbar. In der Welt der meisten schmeckt nichts nach dem, was es ist, sondern nach dem, was es umgebracht hat: Salz, Zucker, leblose Milch.
In Judiths Welt schmecken die Dinge nach ihrem Wesen
– der Wein nach dem Jahr, in dem er reifen, dem Boden, auf dem er wachsen und den Tagen und Nächten, die er erleben durfte. Ein Regenwurm ist ein Geschenk, kein ekelhaftes Ärgernis, das zum Verfassen anonymer Leserbriefe nötigt.
Gemeinsam mit ihrem Lebenskomplizen Uli Leitner hat sie sich „in den Reben“ mit Familie und Betrieb zwischen Gols und Mönchhof niedergelassen. Wenn Uli nicht gerade sein Bier braut, trägt er im Keller dazu bei, dass nicht nur konsequent gearbeitet, sondern auch ein smarter Narr von der Leine gelassen wird: Sein Abheben und Judiths Bodennähe lassen einen Mittelweg zu, der beiden guttut.
All das formt das Substrat, auf dem Judiths Weine reifen. Wer also Freude daran hat, etwas zu verinnerlichen, das eher einem Clubkonzert gleicht denn einer volkstümlichen Sause, dem kann ich nur empfehlen, die Augen zu schließen und sich einzulassen auf die selbstverständlich nicht friktionsfreie, aber äußerst sinnvolle Welt der Judith Beck.
Es ist noch Platz dort.